Die Stimmen in meinem Kopf

Im Kindesalter hat sich wohl jeder mit imaginären Freunden unterhalten und gespielt. Wenn ich mich daran zurückerinnere, überkommt mich ein wohliges Gefühl. Das war der Startschuss für meine Figuren, ohne das ich es geahnt hätte.

Sie begleiteten mich einfach durchs Leben. Keine Sorge, ich bin nicht verrückt. Doch es gab mir ein gutes Gefühl, wenn meine imaginäre Schwester mit mir Legohäuser baute. Mit ihr fing alles an. Hinzukamen kamen Freunde, weitere Familienangehörige und Personen, denen man auch sonst im realen Leben begegnet, wie beispielsweise die nette Verkäuferin, die einem ein Brötchen kostenlos über die Theke reicht oder der mürrische Kioskbesitzer, der das Geld stets zweimal nachzählt, wenn ein Kind bezahlte.

All diese Personen wuchsen mit der Zeit, sie reiften genau wie ich. Sie erlebten Krisen, sie bewältigten den täglichen Wahnsinn und sie meisterten ihr Dasein, wenn auch oft mit mieser Laune. Ich weiß noch, wie ich mir eine Zeit lang vorstellte, eine Alkoholikerin als Mutter zu haben. Das klingt schrecklich, aber wenn man die Gedanken, die mich als Kind zu dieser Vorstellung bewegten, wird es verständlich.

Sie gab mir Freiheiten, die meine Mutter mir nie erlaubt hätte, denn sie wäre zu sehr mit sich und dem Alkohol beschäftigt. Ihr wäre egal gewesen, wann ich ins Bett gegangen und ob ich pünktlich nach Hause gekommen wäre. »Die Naivität eines Kindes«, mögen viele jetzt denken. Aber ich stellte mir auch vor, wie sie den ganzen Tag im Vollrausch verschliefe, während die anderen Mamas mit ihren Kleinen auf dem Spielplatz gingen oder wie sie mich noch spät am Abend zum Kiosk schickte, um eine Uhrzeit, an der die anderen Kinder längst schliefen, nur um ihr noch ein paar Flaschen zu besorgen. Und wie mich der alte Kauz vom Kiosk mitleidig ansehen würde und ausnahmsweise das Geld ohne nachzuzählen in die Kasse warf, weil er mich doch schon so oft um diese Zeit bedient hatte.

Ich schlüpfte gern in andere Lebenssituationen, aus denen ich jederzeit wieder zurückkehren konnte. Dabei veränderte ich mich selbst. Manche meiner inneren Stimmen bestärkten mich mit Lob, wenn ich es nötig hatte. Andere piesackten mich, damit ich lernte, mich zur Wehr zu setzen. Einige waren laut und redeten aggressiv auf mich ein. Einige flüsterten mir zu und umhüllten mich sanft.

Keine dieser Stimmen möchte ich missen. Auch heute nicht. Sie helfen mir dabei, meine Figuren lebensnah zu gestalten. Nur so schaffe ich es, einem unsympathischen Flegel positive Charaktereigenschaften einzuverleiben. So erhält auch die liebste Engelsfigur ihre Schattenseite. Menschen sind mehr als nur »Gut« oder »Böse«. In jedem stecken zwei oder auch mehr Seiten oder auch mehr Stimmen 🙂