Die Menschheit hat den Verstand verloren

Ich muss gestehen, bisher war Astrid Lindgren für mich stets die schriftstellerische Mama von Pippi Langstrumpf – ihr Name gekoppelt an das Erinnern zahlreicher Kindergeschichten, die sich weltweit erfolgreich verkaufen. Doch das Lesen von Die Menschheit hat den Verstand verloren, ermöglicht eine ungewohnte Sichtweise auf die Person Astrid Lindgren.

Der Titel ihrer Kriegstagebücher aus den Jahren 1939 – 1945 hätte nicht treffender gewählt sein können – wie sollte man anders die Gräueltaten des Krieges kommentieren?
Geschickt liefert Lindgren Informationen und untermauert diese, anhand von Zeitungsartikeln und Briefabschriften, die sie in ihrer Tätigkeit als Angestellte in der Abteilung der Briefzensur des schwedischen Nachrichtendienstes angefertigt hat. Sie schildert die bizarre Situation zwischen ihrem eigenen Leben, das trotz des Krieges mit Sonntagsausflügen, Sommerurlauben und Festtagsmenüs beglückt ist, während die Menschen der Nachbarländer verhungern, gefoltert und gar getötet werden. Dabei gelingt es der Autorin, ihre Menschlichkeit aufrechtzuerhalten. Sie leidet mit allen Unschuldigen des Krieges, ohne Berücksichtigung derer Nationalitäten. Glaubhaft beschreibt sie die Angst in Schweden über die Ungewissheit, ob und wann das Land seine Neutralität verlieren könnte. Dennoch lassen die Tagebücher einen Blick hinter die Fassade der Familie Lindgren zu. Man leidet mit, wenn die zweifache Mutter sich um ihre Kinder und zeitweise auch um ihre Ehe sorgt. Hautnah erlebt der Leser der Tagebuch-Einträge, wie sie ihre Leidenschaft fürs Schreiben entdeckt.

Die Menschheit hat den Verstand verloren ist ein Geschichtsbuch von großer Bedeutung, das „Altbekannte“ aus einer anderen Perspektive neu dokumentiert. Meiner Meinung nach gehört es in jeden Haushalt, um das Wissen der Menschen an die schrecklichen Vergehen von damals aufzufrischen.
Denn eins ist unübersehbar: Krieg ist längst ein Teil unserer Gegenwart. Das bestätigen jeden Abend die Nachrichten.